Zimmer mit Aussicht

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Da sitzen wir auf dem Balkon unseres Hotelzimmers – und genießen den Blick über den See. Zum weiten Blick gesellen sich weitschweifende Gedanken. Auf der anderen Seite sehen wir Ortschaften und Städte, Autos und Züge verkehren dazwischen, an den Flanken der Berge haben diese Pulsadern gerade noch ihren Platz gefunden. Auf unserer Seite hängt das Hotel ebenso zwischen See und Berg. Viel Platz hat es nicht.

Aber wir haben ja den See. Er schafft den Raum, den unsere Gedanken brauchen. Wir haben eigentlich keinen Vorsatz, was wir mit diesem Blick anfangen wollen. Aber da sind wir gedanklich schon aufgebrochen, weit draußen auf dem See, obwohl wir darin nicht baden.

Seine Fläche ist die unbeschriebene Leinwand, auf die wir unsere Gedanken zeichnen. Sein Geruch ist die Würze, die unsere Erinnerungen an Zeiten auf den Meeren und Seen unseres Lebens wecken. Das Schlagen der Wellen ans Ufer ist das Geräusch, das uns dabei in unserer Versunkenheit wach hält.

So können Gedanken kommen und gehen – die Weite des Sees erweitert unseren inneren Horizont. Über die Bewegungen des Sees und der sich darin spiegelnden tanzenden Berge und Fassaden der Städte gelangen wir zur Erkenntnis, dass neben der Enge am Rand des Sees und unserer menschlichen Begrenztheiten eine Weite besteht, die wir mit Leben füllen dürfen.

Nach einem ausreichend langen Blick auf den See gelingt uns das hoffentlich wieder aufs Neue.

(Bernward Lindinger, Campione, Lago di Lugano, 18. September 2022)

Hilfskonvoi für ukrainische Geflüchtete

Tagebuch eines Hilfstransfers im März 2022 an die slowakisch-ukrainische Grenze

Donnerstag 24. März ukraine-hilfskonvoi-maerz-2022-1
Ich fahre mit meinem Bus nach Freiburg zur Stadtmission, um Hilfsgüter für die Ukraine aufzunehmen. Wir laden ein, soviel wie geht: Unten im Kofferraum Desinfektionsflaschen und viele andere medizinische Dinge, oben Tüten mit Kleiderspenden, bis wir nicht mehr durch den Bus laufen können. Via SMS erhalte ich zwei Telefonnummern, die ich anrufe, um die Übergabe in der Slowakei zu klären. Ich tanke nochmal voll, fahre nach Bleibach und stelle den Bus ab. Dort laden wir noch Kuscheltiere, Decken und Wasserflaschen für die Heimfahrt.

Freitag 25. März
Frank, mein zweiter Fahrer holt mich frühmorgens ab und wir fahren nach Bleibach. Um kurz nach 8.00 Uhr fahren wir los: Im Konvoi mit 6 Kleinbussen, die hinter uns her huschen.

Auf der Höhe von Bühl platzt einer der Zwillingsreifen des Busses. Wir halten an und ich kündige an, dass wir in 40 Minuten wieder auf der Straße sind. So geschieht es auch. Den Stau in Pforzheim nehmen wir auch noch mit – die Reisegeschwindigkeit hat merklich an Tempo eingebüßt. Aber das macht uns nichts, obwohl noch etwa 1250 Kilometer vor uns liegen. Immer wieder machen wir eine (Kaffee-)Pause und irgendeines der Fahrzeuge wird betankt. Abends in Österreich beschließen wir, die Route zu ändern und fahren über Ungarn von Süden her nachts in die Slowakei.

Samstag 26. Märzukraine-hilfskonvoi-maerz-2022-5
Gegen 3.30 Uhr erreichen wir Kosice, wo wir einen Teil unserer Hilfsgüter einem Ukrainer in seinen Transit umladen. Eine erste bewegende Begegnung mit einem Ukrainer, der sich wohl anschließend auf die Rückfahrt in sein Land begibt.

Wir erreichen um 6.00 Uhr unser Hotel in Kaluza an einem wunderschönen See, an dessen Ende uns Berge anschauen. Deren Grate bilden den Grenzverlauf zur Ukraine. Eine Naturidylle bei schönstem Wetter, die uns zugleich sehr nachdenklich macht: Hier ein Land im Frieden – dort eines im Krieg.
Wir frühstücken und legen uns schlafen. Anschließend treffen wir uns nach und nach an unseren Fahrzeugen, um sie für die Fahrt mit den Geflüchteten zu richten. Denn in Gedanken sind wir bereits bei ihnen. Auf den Sitzen sind Sitzerhöhungen und Kuscheltiere plaziert, Getränke stehen auch bereit. Außerdem kommt ein anderer Transit vorbei, der die übrigen Hilfsgüter übernimmt.ukraine-hilfskonvoi-maerz-2022-4

Dann um 14.45 Uhr letzte Absprachen, Antigenschnelltest gemacht und Motor an: Michalovce ist unser erstes Ziel. Am Stadion hat die Stadt ein Empfangszentrum aufgebaut, das wie ein Jahrmarkt wirkt. Es hat alles, was Geflüchtete benötigen wie Schlafraum, Essensbereich, Sanitäts- und Sanitärbereich, einen Stand mit Artikeln für Haustiere, auch daran hat man hier gedacht. In einem großen Zelt, das wir von Volksfesten kennen, können unzählige Menschen vorübergehend zur Ruhe kommen, Kinder können in einer Spielecke spielen und wir alle dürfen uns frei bewegen. Es wirkt wie ein Ort des Friedens und der Ruhe, auch für die Geflüchteten, obschon sie in Gedanken auf der Weiterreise sind. Viele von denen, die hier warten, nehmen nachher auch in unseren Kleinbussen Platz.

Frank und ich fahren derweil weiter mit dem großen Bus hinüber nach Kosice, wo sich ein weiteres Auffangzentrum befindet. Auch dort hat es große Ruhe und eine Gruppe richtet sich für die Fahrt in unserem Bus. Während wir warten, kommen aus dem Bahnhof weitere Geflüchtete. Da wir Leuchtjacken anhaben, sprechen uns Geflüchtete an. Wir zeigen ihnen den Weg und werden einige nachher im Bus wieder begrüßen. Es ist ein komisches Gefühl, zu erleben, wie viele einfach von und zum Bahnhof gehen, weil sie hier wohnen und leben und andere wie aus einer anderen Welt mit etwas Gepäck (auch die Kinder tragen etwas, sonst hätte die Familie zu wenig dabei) und wenig Kraft vorbeilaufen.

Später beginnt das Einsteigen, das mit viel Ruhe geschieht. Wir wiederholen ständig, dass alle mitkommen können. So bleibt die Situation ruhig. Noch gegen Ende – wir sind schon im Aufbruch begriffen – kommen weitere Ukrainer aus dem Bahnhof, zuletzt sogar eine 9-köpfige Familie. Auch diese nehmen wir noch mit. Später erfahren wir, dass diese Familie seit 4 Tagen von Kiew kommend auf der Flucht ist.

Um 20.15 Uhr verlassen wir Kosice und verbinden nun mit unserer langen Fahrt das Ende der angstvollen Flucht mit der Ankunft im Gastland. Nach einer Begrüßung durch uns auf Russisch und Ukrainisch fühlen sich die Gäste aufgehoben und fallen in einen tiefen Schlaf. Nachts halten wir in Ungarn und Österreich immer wieder zum Fahrerwechsel und wegen des Toilettenbesuchs an, auch versorgen wir die Schlafenden mit Decken, die wir aus allen Fahrzeugen zusammenkratzen, weil wir aus Versehen eine Tasche mit Decken als Kleiderspende abgegeben haben. Doch am Ende reicht es für alle.

Sonntag, 27. Märzukraine-hilfskonvoi-maerz-2022-3
Im Bus breitet sich eine große Ruhe aus und wir rollen durch die Nacht. In Deutschland halten wir an der ersten Raststätte an. Wir sind erleichtert, alle Fahrgäste wachen auf und schauen sich um. Das Personal von der Tankstelle bitten wir, die Toiletten kostenfrei zu öffnen, da wir ukrainische Geflüchtete fahren, die ohne Euro unterwegs sind. Man entgegnet uns, dass es auch in Deutschland arme Leute hat. Verblüfft über diese Haltung zahlen wir die Toiletten aus unserem eigenen Geldbeutel. Am Bus bekommen die Geflüchteten anschließend einen soeben gekochten Kaffee. Wir freuen uns miteinander, etwas Warmes in der Hand zu haben und uns nun bei Tageslicht anschauen zu können.

Ab sofort ist es in den Bussen sehr lebendig, Kinder haben Malbücher und Bilderbücher in der Hand, die Erwachsenen plaudern miteinander. Immer wieder machen wir Rast und machen unterschiedliche Erfahrungen mit der Hilfsbereitschaft des Raststättenpersonals und den Menschen, denen wir begegnen. Ein erster Vorgeschmack auf die Vielfalt an Meinungen in unserer Gesellschaft.

Schließlich kommen wir nachmittags in Bleibach an. Einigen der Geflüchteten ist es ein Anliegen, sich persönlich von uns Fahrern zu verabschieden, obschon sie wie alle anderen hungrig und erwartungsvoll die vorübergehende Bleibe aufsuchen und einen Platz für sich finden möchten. Sie sind willkommen. Und doch wissen wir alle, dass zwischen uns Deutschen und den ukrainischen Gästen nicht alles reibungslos verlaufen wird.

Wichtig zu wissen: Es sind allesamt ukrainische Bürger/innen, die auf der Flucht in unsere Busse gestiegen sind. Eine Organisation vor Ort (www.mission-lifeline.de) hat die Identität per Passkontrolle genau geprüft, wie sie auch mich überprüft haben, ob ich ein richtiges Unternehmen bin. Und wir haben bereits während der Fahrt erleben dürfen, wie dankbar und respektvoll sie aufgetreten sind.

Von einigen weiteren Fahrgästen verabschiede ich mich nun ebenso persönlich und fahre dann den Bus dorthin, wo er 2900 Kilometer zuvor aufgebrochen ist – und merke, dass unsere Aufgabe eigentlich erst jetzt beginnt: Die Fahrt war nur ein kleiner Auftakt für die Zeit, die wir Europäer nun miteinander verbringen werden. Wir werden uns kennenlernen, unsere Gäste womöglich sogar die deutsche Sprache erlernen – und wir dann auch Ukrainisch. Schauen wir mal – am besten nach vorne.

Ein paar Fakten: Hilfstransfer vom 25. bis 27. März 2022 / Fahrt mit einem Großbus und 6 Kleinbussen, gefahren von 15 Ehrenamtlichen / Sprit- und andere Kosten der Fahrzeuge, die von Firmen nahezu kostenfrei zur Verfügung gestellt werden, werden durch Spenden finanziert / 2900 Kilometer Gesamtstrecke / Abholpunkt an den Aufnahmezentren Michalovce und Kosice in der Slowakei / Circa 80 Geflüchtete, davon der größte Teil Frauen mit Kindern / alle Geflüchteten haben die ukrainische Staatsbürgerschaft / Organisation dieser Fahrt: Uli Hartmann in Zusammenarbeit mit der Gemeinde Bleibach und dem Hilfswerk „mission lifeline“.

Daheim und im Geiste mobil

Gedanken während der Corona-Krise

Wir haben darin nun schon einige Übung! Wir bleiben Daheim und verlangsamen die Ausbreitung des Corona-Virus - aber in Gedanken machen wir uns schon wieder auf den Weg: Wir telefonieren, wir treffen uns in Chats und wir begegnen uns in Skype, was viele neu entdeckt und erlernt haben.

Denn wir spüren, dass uns die unmittelbaren Begegnungen fehlen, dass wir sozial und kulturell durstig werden: Neben vielen witzigen, ermunternden Sprüchen und Videos, aber auch trostspendenden Wünschen und Telefonaten schicken wir uns gegenseitig „Balkonkonzertaufnahmen“ und Musikstücke, die von Musikern und Künstlern produziert werden, die gar nicht zusammen im Tonstudio sitzen. So die Musikkapelle aus Kenzingen und Siegelau, eine Musikkapelle aus Katalonien und ein Coro virtuale / ein virtueller Chor aus Italien. Digital schaffen wir es, ein gemeinsames Netz zu knüpfen - sogar über geschlossene Landesgrenzen hinweg!
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Das gelingt uns durch die neuen Medien in beeindruckender Weise – und vor allem dadurch, dass wir obschon Zuhause bleibend geistig rege und auf diese Weise mobil bleiben wollen.

Das ist eben ein besonderes Merkmal unseres Wesens, wie es uns in der Bibel vielfach begegnet: Wie Noah mit seiner Arche, Abraham ins Gelobte Land, Mose in die Wüste und Jesus nach Jerusalem aufbrechen, so brechen auch wir in der Krise auf, um ins Reich Gottes zu gelangen, indem wir eine menschenwürdige und lebenswerte Kultur gestalten. Unser Glaube an den Sinn dessen ist die Dynamik, die uns geistig und körperlich Beine macht:

Verbindendes in der Trennung zu schaffen, Musik und Texte gegen die Einsamkeit zu schreiben, uns gegenseitig nach dem Wohlbefinden zu erkundigen und gegebenenfalls zu helfen, das sind Beispiele, wie „bewegt“ wir sind.

Auch wenn dann nicht immer und alles so einfach in Schwung kommt und gelingt - die Richtung stimmt. Und so lassen wir uns vom Virus nicht davon abhalten, an einer gemeinsamen Geschichte in unserer Welt dranzubleiben. Denn unsere von Daheim gestaltete Kultur schenkt uns ein derart von Menschen und Leben erfülltes Zuhause, dass wir sie gerne in unsere vier Wände holen möchten, auch wenn sie unsere Wohnzimmerwände sprengt!

Bernward Lindinger im April 2020

EUROPA

Was für ein Mythos. Und was für eine Problembegriff in unseren Tagen. Der Name der Tochter eines phönizischen Königs gibt einem von ihr eher unfreiwillig besuchten Landstrich den Namen – und ist in unseren Tagen zugleich ein Synonym geworden für unsere Probleme, sich nicht nur innerhalb seines eigenen Tellerrandes als Gemeinschaftswesen zu verstehen.antwerpen-dachterrasse
Dabei ist der Grundgedanke einer gemeinsamen Identität in der Vielfalt und zugleich Verwandtschaft seiner Kulturen kein so ganz schlechter.
Wenn wir uns gegenseitig besuchen und miteinander in Kontakt treten, treibt das zwar so manche seltsame und schrille Blüten von ausufernden Straßenzeilen mit Souvenirartikeln und geschmacklich abgeschliffenen Restaurants.
Aber die Idee Europas ist es wert, dass wir sie uns zunutze machen: Dass wir uns besuchen, uns nach dem Empfinden erkundigen und dabei einander in unserer Verschiedenheit und kulturellen Vielfalt kennen- und vielleicht auch schätzen lernen.
Und auf der bürgerlichen und politischen Bühne haben wir Diskussions- und Streitstoff genug, der uns die Verwirklichung eines geeinten Europas nicht leicht macht. Aber die Suche nach einem darunter liegenden tragfähigen Fundament für einen darauf auszubauenden Frieden im Miteinander ist eine großartige Idee.
Und wenn wir mal über die Erdgeschosse der Souvenirgeschäfte hinaus nach oben die Fassaden und auf den Dachterrassen die Silhouette einer Stadt bewundern und darin ihr Symbol für die Freiheit und Wohnlichkeit unseres Kontinents erkennen, können wir in dieser Ruhe die Schönheit und Attraktivität des Friedens entdecken, das uns dieses Europa schenken will.
Ich glaube, wegen dieser Entdeckung würde auch unsere Phönizierin mit dem unfreiwillig betretenen Land ihren Frieden schließen.

Die Anker lichten...

…sonst kann sie nicht losgehen – auch wenn sie im Kopf längst losgegangen ist: Meine Reise durch Zeit und Raum, durch die Welt und durch mein Leben. Anders als ein Baum, der verwurzelt ist und die Welt nur als Bild zwar im 360- Grad-Modus, aber eben nur um sich herum wahrnehmen kann, kann ich um alles herum gehen, kann alles auch von einer anderen Seite sehen.antwerpen-schiff
Ich darf alles dreidimensional bestaunen – weil ich mich bewegen kann.

Am besten klappt es, wenn ich die Anker lichte und auf Reisen gehe. Überall kann ich dann vor Anker gehen, wo es mir gefällt und wo ich mir besondere Eindrücke erhoffe – und manchmal muss ich auch irgendwo vor Anker gehen, wo es mir nicht gefällt und ich dann Erfahrungen sammle, die ich mir so nicht gewünscht habe.

So oder so bin ich dabei aber nicht ohne eine innere Verankerung unterwegs. Denn ich komme ja nicht von irgendwoher und segle auch nicht einfach irgendwohin. Ich kenne meine Herkunft und öffne mich zugleich für neue Welten.

Verwurzelung passt nicht zu mir, die Verankerung schon eher. Und überall, wo ich vor Anker gehe, nehme ich etwas in meinem gedanklichen Seesack mit, der nie zu schwer wird, obwohl ich stets etwas Neues hineinpacke.

Ich bin ein Mensch, weil ich durch und durch, körperlich wie gedanklich beweglich bin. Weil ich die Unendlichkeit der Welt als Teil meiner selbst spüre. Weil ich Lebensfreude daran habe, die Anker zu lichten und diese auch wieder auszuwerfen.matrose-dehaag

Eine Reise ins Land der Mitte - Gedanken eines Busfahrers

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Wir fahren durch die Nacht. Die Fahrgäste haben es sich schon reichlich gemütlich gemacht. Manche plaudern, manche lachen, viele haben die Augen geschlossen, weil sie schlafen oder auch nicht. Jedenfalls ist gegen 1 Uhr nachts kein Entertainment mehr gefragt.

Ein Film läuft real vor dem Fenster ab: Lichter und Landschaften sausen an uns vorbei. Wir sehen sogar noch brennende Wohnzimmerlampen und flimmernde Kisten. Aber es bleibt dabei: Wir allein haben den spannendsten Film – einen Roadmovie – gewählt, obwohl so gut wie nichts in ihm passiert. Außer in unseren Köpfen.

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Unser Raum wird aufgrund der Dunkelheit immer kleiner, währenddessen unsere Gedanken in alle Richtungen schweifen. Wie die Autos, die nach und nach die Autobahn verlassen. Wir und wenige andere sind noch in Bewegung. Dennoch kehrt Ruhe ein: Auf der Straße, in den Gedanken und im Bauch - obwohl ich schon lange nichts mehr gegessen habe.

Nur ab und an trinke ich einen Schluck reines Wasser. Meine Konzentration ist beim Verkehr und bei der Kontrolle der Bewegung des Busses und seiner Instrumente. Und damit bin ich voll und ganz in der Gegenwart. Die Zeit, in der ich nicht einmal mehr Hunger spüre, scheint still zu stehen.

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In ihr dürfen Gedanken und Fahrgäste kommen und gehen. Ungezwungene Gespräche mit ihnen und meinen Gedanken haben jetzt ihre Zeit. Ich höre schlafende Fahrgäste und Chopins Klavierkonzert, fahre im Gefühl, zeitlos, bodenlos und endlos irgendwo auf der Erde unterwegs zu sein. Nur das, was jetzt ist, ist wirklich.

Das Busfahren hat etwas von einer Askese, die ein Weg zum Glücklichsein ist. Der Bus und seine Bewegung mit ihm ist für diese Zeit lang meine Mitte, das Busfahren wird zum Kreisen um mich selbst, zur Meditation – wenn uns keine schikanöse Polizeikontrolle oder ein sabotierender Keilriemen einen Strich durch diese Mitte machen ...

Boxenstopp

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Ich sitze im Café. Der Kaffee steht vor mir. Ich mache Zucker hinein und rühre um.

Damit bin ich endlich angekommen - in der Gegenwart. Egal woher ich komme, wohin ich nachher muss. Jetzt bin ich da, vielleicht sogar richtig da. Ganz da in der Zeit, die jetzt ist. Gedanken gehen mir durch den Kopf. Ohne geht es einfach nicht.

Aber nur sie und die Leute auf der Straße bewegen sich.
Ich bin ja einfach nur da.

Ich schaue und mache Beobachtungen, Bewertungen.
Schlaue und weniger schlaue. Es liegt an mir.

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Vor mir breitet sich die Straße, eine Landschaft, ein Platz, etwas Musik, einfach das Leben aus. Ich nehme es wahr, in seiner Einfachheit, in der lebendigen Einfalt und praktischen Art und Weise - und entdecke mein Leben darin, meine Weite, die nicht nur vor mir liegt, sondern sich auch in mir ausbreitet - wenn ich einfach ganz da bin.

In dieser Weite schaue ich irgendwann durch alle und alles hindurch.

Das Leben vor mir geht einfach ohne mich weiter.
Ich lasse das zu - und alles los. Für einige Momente.

In denen geht das Leben dann in mir selbst weiter: In neuen Gedanken, in alten Kamellen, in tiefen Erkenntnissen und flachen Plattitüden.

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Das Café ist eine Chance: Für dunkelbraunen Kaffeegenuß, helle Gedanken und wache Momente. Einfach wenn ich da bin, ganz da bin - solange noch Kaffee da ist oder sogar darüber hinaus, denn die Weite vor mir und in mir kann ja so grenzenlos sein.

Alpen inklusive

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Die Hitze des Sommertages lässt - jetzt spätnachmittags - allmählich nach. Der Reisebus wird bepackt und die Jugendlichen suchen sich ihre Plätze in dem viel zu heißen Bus. Dort werden sie die kommende Nacht verbringen auf dem Weg nach Hause. Ich warte lieber draußen bis zur Abfahrt, denn ich werde ja sowieso noch lange genug vorne links am Steuer sitzen.

Dann geht es los, über toskanische Hügellandschaften, wo die Jugendlichen ihr Jugendlager verbracht haben, vorbei an Florenz, das in der Sonne glänzt. Der Bus klettert an den Hängen des Apennin die „Autostrada” hoch. Es ist einer der schönsten Momente beim Busfahren, wenn sich der Tag langsam neigt und die Sonne alles vergoldet, wenn dann die Temperatur im Bus erträglicher und die Stimmung der Jugendlichen angenehm ausgelassen wird.unterwegs-spiegel

Wir überqueren den Grat des Apennin und lassen gleichzeitig Sonne und Urlaubsregion zurück. Vor uns liegt die weite Ebene der Emilia Romagna, die bis zu den Alpen reicht und über uns senkt sich langsam die Dämmerung herab. Für die Jugendlichen beginnt die Zeit, einen Video zu gucken. In der Umfahrung von Milano steuere ich einen Rastplatz an und verabschiede mich mit einem letzten italienischen Caffé von Italien.

Mittlerweile ist die Nacht völlig hereingebrochen. Einige Jugendliche machen es sich gemütlich und quatschen miteinander, andere Jugendliche fallen vom Urlaub erschöpft in tiefen Schlaf. Eine lange Nachtfahrt inklusive Alpenüberquerung liegt nun vor uns, von den Bergen ist allerdings wenig zu sehen. Das offene Fenster verschafft mir am Steuer kühle Bergluft. Am Gaspedal spüre ich die Steigungen, die immer länger werden. Ich höre das gleichmäßige Brummen des Motors, der 11 Meter hinter meinem Sitz seine Arbeit macht.

So reduziert sich Geselligkeit auf die Geräusche des Motors, meine Gedanken und auf das Bild vor meinen Augen: die Straße, von der ich pro Sekunde fast 28 Meter „verschlinge”. So bin ich eigentlich ziemlich allein hier vorne - aber ich fühle mich nicht so. Denn obwohl ich die Berge nicht sehe, sind sie für mich trotzdem da, weil ich vom vielen Fahren auf dieser Strecke weiß, wo und wie sie stehen. Sie sind mir vertraut wie die Schilder und die angestrahlten Sehenswürdigkeiten. Die Straße ist für mich wie ein Zuhause, obwohl ich nicht auf ihr wohne, sondern nur auf ihr fahre. So fahre ich stundenlang und genieße es.
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„Unruhig ist unser Herz, bis es ruht in dir.” habe ich einen alten Kirchenvater namens Augustinus im Kopf. Obwohl selbst wohl kein Busfahrer gewesen bringt er damit die Erfahrung eines fast „rausch-haften Unruhestands” eines Busfahrers auf den Punkt, und das aus christlicher Sicht: Wir alle, ob Busfahrer oder nicht, tragen die Unruhe in uns. Immer wieder und gerade zur Urlaubszeit wünschen wir uns, aufzubrechen und - für kürzere oder längere Zeit - unterwegs zu sein.

Aber im Grunde sind wir nicht nur mit unseren Füßen, sondern zuallererst in unseren Köpfen „mobil”: nämlich immer auf der Suche nach so etwas wie dem allerschönsten Zuhause - und sind dann ausgerechnet in der Mobilität ein Leben lang Zuhause. Dabei haben wir Christen vor allem dieses Ziel vor Augen: die Ruhe bei Gott zu finden. So sind wir „nur Gast auf Erden und wandern ohne Ruh‘…der ewigen Heimat zu.” wie es in einem Kirchenlied heißt.
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Die Jugendlichen im Bus wissen wohl eher nichts von Augustinus. Allerdings habe ich oft den Eindruck, dass sie ebenso hoffen, gerade in der Mobilität etwas für ihr Leben Bedeutungsvolles zu finden. Und so spüren sie wie ich ein Kribbeln in der Magengegend, wenn ich den Busmotor starte und wir alle wieder „on the road” sind …

Bernward Lindinger