Zimmer mit Aussicht

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Da sitzen wir auf dem Balkon unseres Hotelzimmers – und genießen den Blick über den See. Zum weiten Blick gesellen sich weitschweifende Gedanken. Auf der anderen Seite sehen wir Ortschaften und Städte, Autos und Züge verkehren dazwischen, an den Flanken der Berge haben diese Pulsadern gerade noch ihren Platz gefunden. Auf unserer Seite hängt das Hotel ebenso zwischen See und Berg. Viel Platz hat es nicht.

Aber wir haben ja den See. Er schafft den Raum, den unsere Gedanken brauchen. Wir haben eigentlich keinen Vorsatz, was wir mit diesem Blick anfangen wollen. Aber da sind wir gedanklich schon aufgebrochen, weit draußen auf dem See, obwohl wir darin nicht baden.

Seine Fläche ist die unbeschriebene Leinwand, auf die wir unsere Gedanken zeichnen. Sein Geruch ist die Würze, die unsere Erinnerungen an Zeiten auf den Meeren und Seen unseres Lebens wecken. Das Schlagen der Wellen ans Ufer ist das Geräusch, das uns dabei in unserer Versunkenheit wach hält.

So können Gedanken kommen und gehen – die Weite des Sees erweitert unseren inneren Horizont. Über die Bewegungen des Sees und der sich darin spiegelnden tanzenden Berge und Fassaden der Städte gelangen wir zur Erkenntnis, dass neben der Enge am Rand des Sees und unserer menschlichen Begrenztheiten eine Weite besteht, die wir mit Leben füllen dürfen.

Nach einem ausreichend langen Blick auf den See gelingt uns das hoffentlich wieder aufs Neue.

(Bernward Lindinger, Campione, Lago di Lugano, 18. September 2022)